Auszeit im Tessin – Teil 1

Auszeit im Tessin – Teil 1

Wären da nicht die fantastischen Morgenlichter, würde ich wohl noch etwas länger im wohligen Bett meines VW Busses verweilen, denn ich bin noch müde.

Morgenspaziergang beim Lido in Ascona

Die Veränderung, die mein Leben in der ukrainischen Wohngemeinschaft erfahren hat, ist anstrengend, wenn auch sehr lehrreich und gut. Die letzte Geschichte auf meiner Homepage hatte Folgen, sodass ich sie entfernt habe.

Und das kam so, aber vorerst: „Herzlichen Dank, für all die wohlwollenden und lieben Kommentare zur Geschichte „Fünf Ukrainerinnen unter meinem Dach“.

Wie ihr wisst, sind solche Einträge immer aus meiner Sicht geschrieben. So ist mein Blog. Es ist die persönliche Geschichte, wie ich den Einzug der geflüchteten Frauen empfunden habe. Ich habe den Frauen den Text übersetzt und zum Lesen gegeben. Im Vorfeld hatte ich ihre Erlaubnis erhalten, die Bilder für meinen Blog verwenden zu dürfen. Zum Glück hatte ich das getan, denn als sie den Text dazu lasen, waren sie sehr aufgebracht und besorgt. Sie hatten das Gefühl, wenn Freunde und Verwandte diese Bilder sähen, dass ein völlig falsches Bild von ihnen entstanden sei. Ein Bild, das fröhliche, unbekümmerte und von Luxus umgebene Frauen darstellt, die ihre Heimat durch die Flucht verraten haben. Es ist ihnen sehr wichtig, was andere denken. Auch wir schauen Nachrichten und leiden mit, erklärte ich ihnen. Sie meinten, ich hätte fälschlicherweise geschrieben, dass sie nach den ersten Bomben Kiew verlassen hätten, dabei seien es drei Wochen gewesen. Sie sassen oft im Bunker, hörten die Einschläge und es gab fast kein Essen mehr in den Läden. Ich erklärte ihnen, dass ich dieses „nach den ersten Bomben“ als Phrase benutzt hätte für „kurze Zeit später“. Zeitempfinden ist immer relativ.

In der Geschichte „fünf Frauen unter meinem Dach“ erzähle ich von mir. Einseitig, aber so ist es in meinem Blog. Ich wollte ihnen bestimmt nicht schaden. Dafür habe ich mich entschuldigt. Wir wissen, dass sie vor einem schrecklichen Krieg mit Massaker, Gräueltaten, Ängsten und Not geflohen sind.

Hätte ich ihnen die Übersetzung gar nicht geben sollen? Das wäre nicht richtig gewesen. Ihr Aufgebrachtsein kann ich nachvollziehen und verstehen – aus ihrer Sicht – und es tut mir sehr leid. Sie wollen eine andere Geschichte erzählen. Ihre Geschichte. Ich entschied mich, meinen Beitrag vorläufig von der Seite zu entfernen und natürlich auch aus FB. Es liegt mir fern mit meinen „Plaudereien“ irgend jemanden zu verletzen. Und das hatte ich getan. 

Indem ich schreibe, sortiere ich meine Gedanken zu den aufwühlenden Ereignissen. Die daraus entstandenen Diskussionen sind wichtig für mich, denn ich stehe mitten in den Gefühlswogen dieser Frauen. Wenn sie mit ihren zurückgelassenen Verwandten telefonieren, stürzen ihre Emotionen ab, eines nächtlichen Atlantiksturms ähnlich, und wenn sie auf einem Ausflug die Schönheit der Natur aufsaugen, gleichen die Gefühle einem Kräuseln auf einem Dorfteich. Meine Schwester schrieb dazu: „Man muss sicher alle und alles mit „Samtpfötchen“ anfassen, denn in diese schwere Lage kann man sich ohnehin nicht richtig versetzen.“ Recht hat sie.

Nun bin ich im Tessin. Ich verliere mich in diesem unglaublich gleissenden Morgenlicht, das in jede meiner Poren eindringt. Die Konturen zeichnen haarscharf jedes Blättchen im Baum, jeden Stein im glasklaren Wasser, die Farben sind von einer Intensität, wie ich sie schon lange nicht mehr wahrgenommen habe und ich schwebe darin. Diese klare Luft und mein neues iPhone bescheren mir Stunden, in denen ich mich völlig von der Welt lösen kann.

7 Gedanken zu „Auszeit im Tessin – Teil 1

  • April 11, 2022 um 1:47 pm Uhr
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    Bien chère Verena,

    Je me permets de t’écrire en français. Je crois que tu comprends cette langue. Sinon dis-moi!
    Je viens de lire ton commentaire et me réjouis beaucoup des photos du Tessin. Que c’est beau. J’ai lu aussi tes réflexions sur ta maison où tu accueilles des Ukrainiennes. Alors encore une fois bravo pour ton geste et toutes les conséquences qu’il amène. Et si tu as besoin d’aide, n’hésite pas à nous demander.

    Avec les meilleures pensées de Nicole

    Antwort
    • April 11, 2022 um 3:32 pm Uhr
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      Chère Nicole
      Je comprens ton français. Et toi? Le mien? Sans translator App. Merci pour ton offre. Si j‘aurais besoin, je me 📞 chez toi. Bien tôt avec un ☕️.

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  • April 14, 2022 um 11:06 am Uhr
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    Liebe Verena
    Du bist sehr offen und mutig und machst das Richtige.
    Herzlich Hélène

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    • April 14, 2022 um 5:58 pm Uhr
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      Danke vielmals für deinen Kommentar

      Antwort
  • April 16, 2022 um 10:55 am Uhr
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    Liebe Verena! Danke für den unterhaltsamen Reisebericht und den tollen Fotos aus dem schönen Tessin. Beim Lesen hatten wir oft das Gefühl als wären wir auch dabei und schmunzeln, denn wir können gut nachvollziehen worüber du schreibst, da wir selber mit unserem Nugget-Büsli unterwegs sind. 🙏🏻 und liebe Grüsse aus Galicien Silvia und Urs

    Antwort
    • April 17, 2022 um 6:50 pm Uhr
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      Ich wünsche euch frohe Ostern.

      Antwort

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