Meine Tage im Tessin sind vollbepackt. Alles ungeplant. Ich lass mich treiben von der Sonne, von den Menschen, vom Licht und manchmal vom Schicksal, das mir keine andere Wahl lässt.
Auf der Suche nach einem Nachtparkplatz, den ich tags davor ins Auge gefasst habe, kurve ich hoch nach Orselina. Alles ist besetzt und so fahre ich einfach weiter bis die Waldstrasse immer enger wird und die letzten Häuser bereits talwärts liegen. Plötzlich geht es einfach steil den Berg hinauf, einspurig mit wenigen Ausweichbuchten. Der letzte Wendepunkt liegt weit zurück. Die Wände sind felsig, Äste hängen tief und ich frage mich wohin das Strässchen führt. Der Abend bricht herein. Nach Dutzenden von Haarnadelkurven ende ich fünfhundert Höhenmeter höher und ein paar heftige Herzschläge später in Monte Brè, oberhalb Ascona. Im atemberaubenden Abendlicht mit Ausblick über den See geniesse ich das Ende meines abenteuerlichen Tages. Später suche ich einen ruhigen Parkplatz vor einem verlassenen Hotel.

Ganz im Gegensatz zur vorherigen Nacht geniesse ich die Stille. Da hatte ich ganz offiziell in Locarno auf einem Wohnmobil Stellplatz geparkt und dies inmitten vieler, meist LKW-grossen Campern und Wohnwagen. Ich fühlte mich bedrängt. Es war unheimlich. Es brummte stetig, rechts und links wurde heftig gestritten, Motoren heulten beim Wenden und irgendwo johlten Heimkehrer aus der Innenstadt. Nicht mein Ding!

Der Tag beginnt in den ersten Sonnenstrahlen auf dem Kopfsteinpflaster der Piazza Grande. Noch sind Peppina und ich allein unterwegs. Im «al Porto» geniesse ich die Sonne, Cappuchino und Aprikosengipfel, ganz wie in Schaffhausen im Spettacolo.
Bei milden Temperaturen und gleissendem Sonnenlicht verlasse ich Locarno und fahre ins Maggiatal. Links das ausgewaschene Flussbett, rechts steile, ehemals bewirtschaftete Abhänge und immer wieder Brücken, Dörfer, die je weiter das Tal hinauf führt, immer pittoresker und authentischer werden. Zerbröckelnde Rustici stehen neben restaurierten aus glatten Holzstämmen, Verglasungen und Granitdächern. Die Temperaturanzeige fällt gegen die Nullgrenze. Bald holpert es, Schlaglöcher erinnern an den Winter, kleine Serpentinen winden sich nach Mogno hoch. Hier will ich mir die Giovanni Battista Kapelle von Mario Botta ansehen. Ich bin überwältigt von der Ausstrahlung dieser kleinen Kapelle. Nachdem 1986 eine Lawine die alte Kapelle zerstört hatte, bekam Mario Botta, Tessiner Stararchitekt, den Auftrag eine neue zu bauen. Es ist sehr, sehr beeindruckend wie er die Linien der Berge, der Felsen und Häuser aufgenommen hat. Wie das geometrische Wechselspiel mit Marmor und Granit diesen Ort zu einem besonderen Kraftort macht.



Auf einer Wanderung von Mogno zum höher gelegenen Fusio springt Peppina freudig durch den noch kahlen Buchenwald. Das kompakte Dorf, Fusio, scheint sich an die Felswände zu krallen. Nach einer spontanen Einladung zu einem Espresso und spannenden Gesprächen fahre ich noch die letzten paar hundert Höhenmeter hinauf zur Staumauer des Lago del Sambuco (Holundersee). Ich bleibe nicht lange. Es schneit.







Auf der Rückfahrt stelle ich mir die abendliche Frage: Soll ich auf einen Campingplatz? In der Schweiz sind sie sehr teuer. Der einzige Grund wäre die Benutzung einer Dusche, um Haare zu waschen. Da ich Wasser und WC im Auto habe und eine Aussendusche, die am Wassertank angeschlossen ist, habe ich heute nun diese letzte Hürde überwunden und mir pfadfindermässig mit kaltem Wasser den Kopf runter gewaschen. Alles kein Problem und bestimmt auch noch gesund.


Ich stelle fest, dass ich mir alles anschauen will. Es gibt auch in der Schweiz noch zu vieles, was ich noch nie gesehen habe. So drängt es mich die Gondel nach Cardada zu nehmen, den Ausblick von der überhängenden Plattform aufzusaugen, hinauf zum Gipfel (Cimetta) zu wandern, auf dem Dachsweg nach Monte Brè, die Maggiasteine zu berühren, die Steinbrücke in Lavertezzo zu fotografieren, was mir übrigens nicht gelingt. Aber gesehen habe ich sie. Ich stelle mir Fragen: Ist es die lange Reise-Enthaltsamkeit nach Corona oder der Krieg in der Ukraine, die diesen Drang verstärken. „Wer weiss, was noch kommt.“ Oder sogar mein baldiger runder Geburtstag, der mir die Vergänglichkeit noch etwas näher bringt. Ich will alles sehen und erfahren. Jeden Tag bewusst erleben, mir Zeit nehmen für Gedanken über mein Leben, den Sinn meines Daseins und darüber wie ich es für andere ein bisschen besser machen kann.










Wunderbar geschrieben liebe Verena! Ich freue mich jedesmal von Dir zu lesen. Wenn ich nur auch so selbständig unkompliziert reisen könnte….
Herzliche Grüsse Yvonne
Ciao Yvonne
Dafür spielst du Golf und ein paar andere schöne Dinge, die wir bei einem Glas Wein bereden müssen.
Wenn ich Deine lebendigen, ausdruckstarken Berichte lese, fühle ich mich als Reisebegleiterin.
Toll, dass Du Dir die Zeit nimmst, um all das Schöne in unserem Land zu entdecken.
Herzensgrüsse aus Poschiavo
Gabriele
Im Abstieg vom Monte Brè sagte mein Vater damals, er kenne eine Abkürzung, da wußte ich, daß wir sehr wahrscheinlich länger gehen würden. So war es dann auch. – So viel zu deiner stimmungsvollen Aufnahme zum Monte Brè mit hochgelagerten Füßen und dem interessierten Blick von Peppina. 😉
Ehrlich gesagt hat mir der nächtliche Aufstieg gereicht.
So schön, Deine Beichte zu lesen – und dazu noch aus dem Tessin, aus der Gegend, die ich sehr liebe! Ich nehme an ,Du weiss, dass meine Eltern damals in Contra (d.h. zwischen Tenero und Contra) ein Haus gebaut habe, das heute meinem Bruder gehört. Mit meinem Mami war ich oft dort und liebe diese Gegend über alles. Danke für diesen Bericht!
Es ist eine schöne Gegend. Ich erinnere mich dass du oft dort warst. Schöne Ostern.