Die Vögel sind ausgeflogen

Die Vögel sind ausgeflogen

Der Tag war aufreibend gewesen, meine Stimmung am Boden. Ich war traurig und wütend zugleich. Dergestalt aufgewühlt, empfing mich der Garten in seiner geduldigen und besänftigenden Art. Mein Blick verfing sich im grossen mit Schilf bedeckten Vogelhaus. Wo Meisen, Kleiber und Eichelhäher sich jeweils gierig ums Saatgut streiten, war es still. Das Futterhaus war leer. Die Vögel ausgeflogen. 

Ich senkte den Blick. Da lag es. Klein und fein. Ein Federchen kaum daumenlang, durch den Kiel geteilt, einseitig grau und die andere Hälfte mit zehn, vom Dunkelblau ins Hellblaue abgestufte, zarte Streifen. 

Es lag da im Grün des Rasens, perfekt drapiert und unübersehbar. Ein Wunder der Natur. Ein Geschenk für mich. Dieses kleine Juwel gefallen aus dem Vogelgefieder des Eichelhähers war ein Glücksbringer. Weggeblasen war die Wut, verschwunden die Enttäuschung. Alles war gut. Aber was war davor geschehen?

Vor dreieinhalb Monaten, nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine, hatte ich fünf Flüchtlingsfrauen, vier Schwestern und eine Tochter aufgenommen. Ich hatte darüber berichtet. Meine Tochter Linda kümmerte sich um das aufwendige Administrative, während ich ihnen Unterkunft bot. Es war anstrengend, aber gut, lehrreich und erfüllend. Erfreut waren wir, dass sie sehr freundlich, höflich und hilfsbereit waren. Sie schätzten unsere Bemühungen und das herzliche Willkommen der Schweiz sehr. Bis eines Tages die schon länger gärenden Konflikte unter den Schwestern zu meiner Belastung wurden.

Die Reise in England Anfang Mai, hatte ich abgebrochen, weil es Zuhause Probleme gab. In meiner Abwesenheit waren zwei der Schwestern nach Kiew gefahren, um eine weitere Schwester und einen Sohn herzubringen und dies ohne uns zu informieren. Dann war noch eine Tochter unverhofft eingetroffen. Also waren es plötzlich acht Personen. Die Frauen waren wohl davon ausgegangen, dass ich genügend Platz hätte. Fünf waren allerdings genug. Die Neuen konnten jeweils kurzfristig bei Bekannten unterkommen, bevor sie endlich ins Asylheim nach Buch, Schaffhausen wechselten. Die folgenden Wochen waren voller Konflikte unter den Schwestern. Eifersucht spaltete deren Gemeinschaft. So sehr, dass wir eine Frau zu einer anderen Gastfamilie brachten. Zwischenzeitlich tourten unsere „sisters“ die Schweiz. Lugano, Luzern, Zermatt, Engadin und Genfersee. Das Reisen war ja bis Ende Mai gratis. Sie verhielten sich wie Touristen, liessen sich einladen, forderten mit dem Bonus des Flüchtlings Vergünstigungen ein. Bei vielen stiess ihr Verhalten sauer auf. Diese Kehrseite unseres Status S, zeigte sich früh. Wir haben den Geflohenen aus der Ukraine mehr gegeben, als gut ist und sie haben es genommen. Die einen gierig, die andern wertschätzend und dankbar.

Die Familie war oft unterwegs. Besuch in Mailand, Treffen in Zürich, Konzert in Berlin. Es war nicht meine Aufgabe, zu kontrollieren mit wem die Flüchtlingsfrauen ihre Zeit verbrachten. Hellhörig wurde ich erst, als plötzlich eines Morgens, ein älterer Mann vor meiner Tür stand und Eintritt forderte. Vollgepackt mit Brötchen, Prosecco und Joghurt wollte er in meinem Haus mit den Ukrainerinnen frühstücken. Die Frauen kannten den Mann. Ich liess ihn rein und bereute diesen Schritt sofort. Mit Hilfe meines herbeigerufenen Schwiegersohnes verliess er dann das Haus. Später erzählten sie, dass sie den Mann am Bahnhof kennengelernt hätten. Er habe ihnen eine Unterkunft versprochen. Um zwei Uhr nachts sind sie dann in sein Auto gestiegen, um das Haus anzuschauen. Ich war geschockt. Es war zum Glück nichts passiert, aber diese grenzenlose Naivität war erschreckend. Die Frauen glauben, dass es in der Schweiz keine Kriminalität gibt, dass alle grosszügig und gut sind.

Linda und ich klärten immer wieder auf, zeigten Empathie und versuchten ihnen klar zu machen, dass sie Flüchtlinge sind und keine Touristen. Die Frauen, die ich beherbergte, wollen keine Flüchtlinge sein. Sie forderten, und tun es noch immer, Wohnungen im Zentrum, Deutschkurse, Reisegeld und vieles mehr. Unser Staat schulde ihnen das. Dass seit ihrer Ankunft im März zwanzigmal so viele Ukrainer in der Schweiz Zuflucht gesucht haben, interessiert sie nicht. Sie wollen jetzt und sofort. Zum Glück sind die meisten Geflüchteten anders. Dank der guten Zusammenarbeit mit den zugewiesenen Sozialberatern weiss ich, dass wir mitunter die Schwierigsten aufgenommen haben. 

Als gegen Ende Juni ein Teil der Familie eine hübsche und gut gelegene Wohnung beziehen konnte, beruhigte sich die Situation in meinem Haus. Dass allerdings immer mehr verlangende und anschuldigende E-mails von den Frauen ans Sozialamt gingen, hatte ich nicht mitbekommen. Es fiel mir jedoch auf, dass die zwei zurückgebliebenen Schwestern fortwährend leere Wohnungen anschauten. Diese seien jedoch nicht möbliert und kosteten drei Monatsmieten als Kaution im Voraus, erklärten wir. Aber sie verstanden es nicht. Das Sozialamt müsse die Wohnung für sie mieten und möblieren, meinten sie. Die Ansprüche nahmen unverschämte Formen an. Während sie bei mir noch immer höflich und duldsam waren, tobten sie bei den Ämtern. Dann kam der Tag, als auch ihnen eine Wohnung für vier Personen zugewiesen wurde (drei Schwestern und ein Sohn). Sie läge allerdings ausserhalb der Stadt. Das wollten sie nicht akzeptieren und verweigerten die Unterbringung. Anstatt sie samt angehäuftem Gepäck in die eigenen vier Wände nach Schleitheim zu fahren, fuhr ich sie nach Buch ins Durchgangsheim, wo sie nun in einem kleinen Zimmer hausen. Dass Buch noch weiter wegliegt, sahen sie nicht ein. Nach dieser letzten Auseinandersetzung war ich am Ende meiner Kräfte. Es gäbe noch viele Episoden, bei denen einem die Haare zu Berge stehen. Vor allem kann ich vieles nicht nachvollziehen. Die Heimat ist im Krieg und selber benimmt man sich so.

Ich versuche nun, das Erlebte zu reflektieren. Immer mit der Nachsicht, dass in der Ukraine Krieg herrscht. Was ist geschehen? Haben wir versagt? Habe ich sie zu sehr verwöhnt? Natürlich ist mein Dach über dem Kopf ein Komfortables. Ihre Zimmer, die sie sich teilten, waren jedoch sehr einfach. Liegt ein Teil der Ursache auch beim grosszügigen Status S, den unser Staat in der Notsituation, als so viele Flüchtende zu uns strömten, vergab? Linda und ich hatten so oft aufgeklärt, wir haben so viel Zeit aufgewendet, sie dahin zu bringen, dass sie ein Stück unseres Denkens verstehen. Kompromisse, Demokratie, Achtung und Respekt sind wichtige Werte. Dass die Schweiz kein Geldesel ist, sondern wir Schweizer mit Steuern für die Flüchtlinge aufkommen.

Wütend und enttäuscht macht mich auch, dass die dankbaren, traumatisierten und anständigen Flüchtlinge, die unsere Hilfe verdienen, in den Hintergrund geraten. Es sind die unangenehmen Beispiele, die beitragen, dass die Stimmung im Land etwas kippt. Das tut mir leid.

Ich habe mein Bestes gegeben und durchgehalten wie abgemacht, bis ich sie an einen sicheren Ort übergeben konnte. Es hat Kraft gekostet und stimmt mich traurig. Wie schön wäre ein Abschiedsessen gewesen mit allen, die geholfen haben und die sich engagiert haben für diese Frauen aus Kiew. Nun sind sie weg.

Und dann fand ich das Glück auf dem Rasen. Eine solch kostbare Feder zu entdecken und dies sogar in meinem eigenen Garten, will ich als Zeichen der Versöhnung und des Friedens bewahren. 

10 Gedanken zu „Die Vögel sind ausgeflogen

  • Juli 1, 2022 um 1:40 pm Uhr
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    Puhhhhhh……verena. Da hast du wieder einiges erlebt und wie du halt bist, alles wieder auf die positive seite gedreht. Du bist grossartig. So wie du mit so happigen problemen umgehst. Hut ab. Das leben ist eine ewige schule und man lernt immer wieder dazu. Auch wenn man meint, mit allen wassern gewaschen zu sein. Gut ist diese ukrainer-lektion vorbei. Da drückt extrem ihre mentalität und erziehung durch und bestätigt (leider) der ruf der russen (hier ukrainer) in der schweiz. Schön konntest du sie in gute hände weiter geben. Deine aufgabe ist erledigt. Hoffen wir, dass die damen noch den „rank“ finden und bisschen demut lernen. Danke liebe Verena für den offenen und ehrlichen bericht. Das zeichen im garten bestätigt deine positive einstellung und zeigt, dass du alles richtig gemacht hast. Bleib wie du bist. Ich bewundere dich. Es küssli eli

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    • Juli 1, 2022 um 3:00 pm Uhr
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      Danke vielmals für deinen herzerwärmenden Kommentar. Genau das möchte ich erreichen und auch die guten Seiten wahrnehmen. Danke.

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  • Juli 1, 2022 um 4:40 pm Uhr
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    Liebe Verena. Ich bin geschockt. Es ist einfach unglaublich. Ich danke Gott dafür, dass wir uns mit unserer B&B Wohnung nicht gemeldet haben, Flüchtlinge aufzunehmen. Dies vorallem , weil wir sehr viele Gästebuchungen haben. Ich wünsche Dir alles Gute und viel Freude an der Vogelfeder – manchmal lernt man, das Kleinste zu schätzen. Liebe Grüsse zur Zeit aus Seawards, Alaska. Ruth Meister Otth

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    • Juli 1, 2022 um 5:20 pm Uhr
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      Liebe Ruth
      Danke für deine lieben Zeilen. Ich möchte betonen, dass die Mehrzahl der Flüchtlinge dankbare, bescheidene Menschen, die es schätzen hier sein zu dürfen.
      Wie geht es in Alaska?

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      • Juli 1, 2022 um 7:58 pm Uhr
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        Liebe Verena
        Danke für den interessanten Bericht über das Zusammenleben mit den Flüchtlingsfrauen. Ich finde es toll, dass deine emphatischen und positiven Gedanken einen grossen Platz einnehmen.
        Grossen Dank an dich sowie an deine Tochter Linda, für all eure Bemühungen, das war eine grosse Herausforderung. Für die ukrainischen Frauen hoffe ich, dass sie ihren inneren Frieden wieder finden.
        Bis bald! Silvia

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  • Juli 1, 2022 um 5:12 pm Uhr
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    Liebes Vreni, ich bin tief beeindruckt über Deine positive Einstellung trotz allem was Du erlebt hast! Offensichtlich hast Du wirklich Pech gehabt mit Deinen Flüchtlingen. Ich bin wirklich aufgewühlt. Wir fahren Ende nächster Woche ins Engadin, falls Du Lust hast zu kommen: sei willkommen! Sei lieb gegrüsst von Deiner Cousine

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  • Juli 1, 2022 um 11:10 pm Uhr
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    Liebe Verena, Ich bin sprachlos. Finde keine Worte deine eindrücklichen Schilderungen der eigenen Erlebnissen mit Flüchtlingen aus der Ukraine, zu kommentieren. Unglaublich wie deine grosszügige Gastfreundschaft als selbstverständlich angenommen und schamlos ausgenutzt wurde.
    Danke, dass du das uns erzählt hast. In Brasilien bekomme ich davon nichts mit, einzig wenn hie und da die NZZ oder auch mal der Blick darüber berichten. Aber so aus erster Hand nur von direkt Betroffenen. Ich bin froh, dass du die Flüchtlinge nun an die zuständigen Instanzen weitergeben konntest. – Wunderbar dein Erlebnis mit der prächtigen Feder.

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    • Juli 4, 2022 um 2:54 pm Uhr
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      Lieber Edgar
      Danke für deine Zeilen. Es sind spezielle Erfahrungen, die wir alle in diesen Zeiten machen. Brasilien hat wieder andere Probleme. LG Verena

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  • Juli 1, 2022 um 11:48 pm Uhr
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    Das ist ja unglaublich, liebe Verena! So ein Verhalten schlägt dem Fass den Boden aus.
    Gut für dich, dass der Spuk nun vorbei ist. Das wird dir eine Lehre sein …. und gleichzeitig schade für alle, die nun keine Aufnahme mehr finden, nur weil sich einige so danebenbenommen haben.
    Gut, dass das nun vorbei ist und du den Sommer zu genießen beginnen kannst – auch mit Peppina!
    Alles Liebe aus Tirol
    Brigitte

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    • Juli 4, 2022 um 2:51 pm Uhr
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      Danke für Deine Zeilen. Ich hoffe, dass die Frauen etwas lernen. Ich persönlich bereue es nicht, dass ich mich engagiert habe. Es gibt halt unterschiedliche Menschen wie überall. Peppina und ich geniessen nun den Sommergarten. LG Verena

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