2. Tag von Hann. Münden an die Nordsee, St. Peter Ording 4./5. Juni
Um sechs Uhr verlasse ich heute meinen Schlafort in Hann. Münden. Ich habe herrlich geschlafen und fühle mich fit für die weiteren 400 Kilometer. Die Autobahn von Kassel über Hamburg nach Heide ist leer, sehr angenehm, das Wetter freundlich. Eine easy Reise mit einigen Stopps an Autobahnraststätten. Tatsächlich ist das Angebot zum Teil sehr fein, sogar mit Latte Macchiato, was mein Herz höher schlagen lässt. Hörbücher, Radio und Musik unterhalten mich auf der weiten Fahrt.
Als ich in St. Peter Ording ankomme, lasse ich mich zuerst auf dem Campingplatz Biel direkt am Deich nieder. Ich bin müde, sehr müde von der zwei-tägigen Fahrt (900 km) und dennoch zieht es mich nochmals raus ans Meer.
Ein Abend im Nordseewind
Der Abend kündigte sich mit einer warmen Brise, verhangenem Himmel und schäumender Gischt an. Salz hing in der Luft. Die Stille war einzig unterbrochen vom schrillen Schrei einer Sturmmöwe. Genau so hatte ich mir die Nordseeküste vorgestellt. Weit, wild, windig, einfach Wetter.
In der auf Pfählen stehenden „Bar 54“ am Strand von St, Peter Ording (SPO für Eingeweihte) fühlte ich mich gleich angekommen oder soll ich sagen, aufgehoben. Ein Hauch von Güterhof wohl – mit guter Musik. Die aufsteigenden Tränen der Rührung überraschten mich dennoch. Und dann auch wieder nicht, denn noch immer hab ich etwas nah am Wasser gebaut. Übrigens eine sehr passende Redewendung. Die Erschöpfung der letzten vielen Monate hat Spuren hinterlassen.
Ich setzte mich zu einer jungen Frau, nachdem ich mich sorgfältig nach dem passenden Platz umgeschaut hatte. Die hölzerne Terrasse über dem aufgewühlten Meer war mässig besetzt, aber sehr stimmungsvoll.
Sie stellte sich als Mirjam aus Köln vor. Schon bald waren wir in ein tiefes Gespräch vertieft. Obwohl noch jung, schien sie viel Prägendes erlebt zu haben. Was ihr geholfen hätte ein Burnout und Depression zu überwinden und warum sie heute so zufrieden, positiv und stark wirke, wollte ich erfahren. Nach einem Jobwechsel sei sie nun im Aussendienst für eine Automarke tätig und reise unter der Woche von Stadt zu Stadt, schlafe in Hotels und fühle sich dabei einfach sehr glücklich und frei in ihrer Zeiteinteilung. Im Auto sitzen und beruflich durchs schöne Deutschland von Leipzig bis nach Bayern runterfahren. Auch das kann bereichernd sein, wie ich lerne.
Auch habe sie gelernt sich in schwierigen Zeiten an beglückende Momente zu erinnern. Nicht nur erinnern, sondern sie versetze sich richtiggehend hinein und zaubere diese Emotionen so lange herauf bis sie in die damaligen Glücksmomente schlüpfe. Beim Erzählen leuchten ihre braunen Augen, sie strahlt und ich erkenne, dass sie etwas Wichtiges für sich gefunden hat.
Mirjam und ich kennen uns nicht und wir werden uns wohl kaum je wieder begegnen. Deshalb entsteht das Gefühl, dass es nichts gibt, was peinlich ist oder später immer wieder erwähnt würde. Ich schätze diese Zufalls-Gespräche, weil sie so offen und frei sind, wir lassen in unser Inneres blicken, was wir im angestammten Umfeld tunlichst vermeiden. Das fühlt sich einfach gut an.
Auf früheren Reisen war ich gerne allein, denn in meinem Berufsalltag hatte ich täglich intensivst mit vielen, sehr unterschiedlichen Menschen zu tun. Das bringt die Arbeit in der Dienstleistung mit sich. Jetzt aber sind meine Bedürfnisse anders. Ich freue mich Menschen kennenzulernen und fremde Geschichten, Erfahrungen und Meinungen zu hören. Sie bereichern ungeheuer meinen neuen Lebensabschnitt.